Mexikos Obdachlose werden Unternehmer

Wenn man auf den bevölkerungsreichsten Straßen der Welt lebt, dann ist es nicht sonderlich schwer durchs Raster zu fallen. Mexiko-Stadt ist die Bühne für ein chaotisches und seltsames Schauspiel: alltägliche Routine vermischt mit Hektik und Trubel. Es gibt kein zugrundeliegendes Muster oder Design. Das Private geht über in die Öffentlichkeit. Straßenbahnen, Motorräder, Busse und Körper riskieren jederzeit einen Zusammenstoß. Die Menschen schreien Laut um zu feiern, zu bemitleiden und anzupreisen. Augen und Zungen schwimmen in Fässern kochender Brühe, und teilen sich die Bürgersteige mit Schuhputern und Sexarbeitern. Es ist wirklich in Theater. Und es ist unmöglich, dass manche Dinge und Menschen unbeachtet an einem vorbeigehen.

In jeder Stadt der Welt bist du als Obdachloser unsichtbar. Die Straße mag dein zuhause sein, aber du teilst sie mit jedem anderen Bürger der Stadt und nur selten gelingt es ihnen diese ebenfalls zu teilen. Mi Valedor will diese Dynamik verändern. Wir wollen Begegnungen zwischen unpassenden Paaren provozieren: Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, die nicht die Möglichkeit oder die Entschlossenheit mit jemandem zu reden, der möglicherweise sogar ein Seelenverwandter ist. Für jeden Bewohner der Stadt kann dieser Austausch ein Augenöffner sein. Für Obdachlose steht dieser Austausch für eine Bestätigung der Gültigkeit ihres Daseins.

Mi Valdeor ist eine Straßenzeitschrift, welche sich das Verkaufsmodel von The Big Issue in London abgeschaut und für Mexiko-Stadt angepasst hat. Die Verkäufer verkaufen ihre Zeitschriften auf der Straße und tauschen somit einen Moment mit Menschen aus, die sie normalerweise nicht angeschaut hätten. Sie sind Mikro-Unternehmer, kaufen die Magazine zum Einstandspreis und verkaufen sie um Gewinn zu machen. Sie müssen lernen ihre Finanzen zu organisieren, damit sie ihre Einnahmen sparen und mehr Ausgaben kaufen könne. Inspiriert durch den internationalen Erfolg von Obdachlosenzeitungen, die es mittlerweile von Sao Paulo bis Kuala Lumpur gibt, wollen wir dafür sorgen, dass auch die Obdachlosen in Mexiko sich einen gerechten Lohn verdienen können und lernen, sich harmonisch in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.

Die Zeitschrift Mi Valedor versucht die Hektik und den Trubel von Mexiko-Stadt einzufangen: jede Ausgabe ist bildstarkes Portrait seiner alltäglichen Ereignisse, Kontraste und Zufälle. Wir bieten unseren Verkäufern Kunst-, Textil- und Fotografie-Workshops an, damit ihre eigene Realität zum kollektiven Gedächtnis der Stadt beitragen kann. Ein „valedor/a“ bedeutet auf mexikanisch-spanisch so viel wie Kumpel oder Kamerad. Mi Valedor ist kein Flugblatt: es ist ein Handheben durch das Raster.

Mehr zu diesem Projekt und wie die es unterstützen kann findest du hier.


Delphine ist Fotografin, Autorin und Übersetzerin in Mexiko-Stadt. Ihr Fokus ist die Ästhetik und die Politik der zeitgenössischen Kunst – speziell das kollektive Gedächtnis und die Identität. Sie ist Fotografin bei Mi Valedor.

Bilder von Delphine Tomes.